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"Das ist, wo sie's umbringen" - Euthanasie im Nationalsozialismus (Prof. Dr. Michael von Cranach)

Als amerikanische Besatzungssoldaten im Frühsommer 1945 sich aufmachten, um möglichen Missständen in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren nachzugehen, erklärte ein Einheimischer, den sie nach dem Weg fragen: „Das ist, wo sie’s umbringen.“

Der Eindruck, der sich den Soldaten in der psychiatrischen Klinik bot, war verheeren: Zahlreiche ausgemergelte Tote, unterernährte Patienten – der stellvertretende Klinikleiter hatte kurz zuvor Selbstmord begangen. Erste Nachforschungen ergaben, dass noch nach Kriegsende Tötungen an Patienten durch das Klinikpersonal durchgeführt worden waren. Weiter Untersuchungen in allen Besatzungszonen deckten auf, dass seit 1939 im gesamten Deutschen Reich psychisch Kranke in Kliniken gezielt getötet worden waren.

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Nationalsozialismus 2

Basierend auf einen ‚Führerbefehl‘, wurden allein im Rahmen der ‚Aktion T4‘ über 70.000 Patientinnen und Patienten von Ärzten für die Tötung in speziellen Kliniken selektiert; die Ermordung erfolgte insbesondere in Gaskammern. Fingierte Totenscheine sollten die Angehörigen beruhigen, doch zeigte sich breiter Widerstand, auch von Seiten der Kirche, insbesondere durch den Bischof von Münster, Graf von Galen. Offiziell wurde die großflächige Tötung eingestellt, doch liefen reichsweit bis Kriegsende (und wie in Kaufbeuren darüber hinaus) die Tötungen durch Medikamente und Mangelernährung weiter.

 

Die nationalsozialistische Ideologie sah in der Tötung einen ‚Krieg nach innen‘, der psychisch und (vermeintlich) erbkranke Patienten als Belastung für die ‚gesunde Volksgemeinschaft‘ definierte und damit die ‚Vernichtung lebensunwerten Lebens‘ rechtfertigte.

Prof.Dr. Michael von Cranach, selbst 26 Jahre lang Direktor des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren, vermittelte in einem Vortrag am 15. April 2016 diesen Aspekt der nationalsozialistischen Ideologie auf eine äußerst anschaulichen Art und Weise den Schülerinnen und Schülern der Q11. Bemerkenswert war vor allem, dass er sich dem Thema primär als Psychiater und nicht als Historiker näherte, das Menschenbild und Selbstverständnis der eigenen Disziplin hinterfragte und in der anschließenden Diskussionsrunde Impulse zur Reflexion über Werte und die Rolle des Individuums in unserer Gesellschaft setzte.

Markus Greif